Standpunkte

FOTO: KAPUZINER/LEMRICH

17. Novem­ber 2023

Welttag der Armen: Barmherzigkeit als Standortbestimmung

Am 19. Novem­ber ist der „Welt­tag der Armen“. Br. Hel­mut Rakow­ski ver­weist auf Papst Fran­zis­kus: Es geht an die­sem Tag nicht nur um die Bedürf­tig­keit, son­dern vor allem um die Wür­de der Men­schen am Rand.

Barm­her­zig­keit ist das gro­ße Leit­mo­tiv von Papst Fran­zis­kus. Direkt nach sei­ner Wahl sprach er über das Buch von Kar­di­nal Kas­per zur Barm­her­zig­keit. Es „hat mir so gut, so gut getan … Kar­di­nal Kas­per sag­te, dass die­ses Wort alles ändert“. Und er erzähl­te auch, wie Kar­di­nal Cláu­dio Hum­mes ihm ins Stamm­buch geschrie­ben hat „Ver­giss die Armen nicht!“.

Kaum mehr als ein Jahr nach der Wahl von Jor­ge Berg­o­glio begann im Vati­kan eine ver­schwie­ge­ne Akti­on. Der dama­li­ge „Päpst­li­che Rat zur För­de­rung der Neue­van­ge­li­sie­rung“, des­sen Mit­ar­bei­ter ich von 2013 bis 2017 war, erhielt den Auf­trag, die Mög­lich­kei­ten eines „außer­or­dent­li­chen Hei­li­gen Jah­res der Barm­her­zig­keit“ aus­zu­lo­ten. Nichts drang aus unse­rer Arbeits­grup­pe nach außen, sodass den meis­ten der anwe­sen­den Kar­di­nä­le und Prä­la­ten vor Über­ra­schung die Kinn­la­de her­un­ter­klapp­te, als der Pon­ti­fex am zwei­ten Jah­res­tag sei­ner Wahl ein Hei­li­ges Jahr der Barm­her­zig­keit aus­rief: „Ich bin über­zeugt, dass die gan­ze Kir­che – sie selbst hat es so nötig, Barm­her­zig­keit zu erlan­gen, weil wir Sün­der sind – in die­sem Jubi­lä­um die Freu­de fin­den wird, die Barm­her­zig­keit Got­tes neu zu ent­de­cken und frucht­bar zu machen.“

Ich will mich hier nicht über die­ses außer­or­dent­li­che Hei­li­ge Jahr aus­las­sen, das vom 8. Dezem­ber 2015 bis zum 20. Novem­ber 2016 began­gen wur­de, son­dern auf zwei außer­ge­wöhn­li­che Groß­ereig­nis­se bli­cken, die sozu­sa­gen den Höhe­punkt vor der Schlie­ßung der hei­li­gen Pfor­te bil­de­ten. Am 6. Novem­ber pil­ger­ten über 1.000 Straf­ge­fan­ge­ne in den Peters­dom zum Got­tes­dienst mit dem Hei­li­gen Vater. Wäh­rend sich die Päps­te in ande­ren Jah­ren in das nahe gele­ge­ne Gefäng­nis Regi­na Coeli auf­mach­ten, hat­te Fran­zis­kus in den Vati­kan eingeladen.

Kei­ne leich­te logis­ti­sche Auf­ga­be, denn auch der Papst­be­such eines Sträf­lings muss von einem Rich­ter in jedem Ein­zel­fall geneh­migt und die Rei­se minu­ten­ge­nau fest­ge­legt wer­den. Für vie­le die­ser Insas­sen ita­lie­ni­scher Gefäng­nis­se war es ein anrüh­ren­der Moment, hat­ten doch die aller­meis­ten noch nie die Peters­ba­si­li­ka betre­ten, geschwei­ge denn den Papst per­sön­lich gesehen.

Acht Tage spä­ter folg­ten über 4.000 von Obdach­lo­sig­keit, Armut und Aus­gren­zung betrof­fe­nen Men­schen aus über 20 Län­dern der Ein­la­dung „Wir Armen mit Papst Fran­zis­kus auf dem Weg nach Rom in das Herz der Kir­che“. Die­ses letz­te Groß­ereig­nis im Hei­li­gen Jahr hat Papst Fran­zis­kus so berührt, dass er nur eine Woche danach die Ein­füh­rung eines Welt­ta­ges der Armen ver­füg­te. „Vor dem Hin­ter­grund des ‚Jubi­lä­ums für die von der Gesell­schaft Aus­ge­schlos­se­nen‘ … kam mir der Gedan­ke, dass als wei­te­res kon­kre­tes Zei­chen die­ses Außer­or­dent­li­chen Hei­li­gen Jah­res … in der gan­zen Kir­che der Welt­tag der Armen began­gen wer­den soll, … denn Jesus Chris­tus hat sich mit den Gerin­gen und den Armen iden­ti­fi­ziert und wird uns nach den Wer­ken der Barm­her­zig­keit rich­ten (vgl. Mt 25,31–46). Es wird ein Tag sein, der den Gemein­den und jedem Getauf­ten hilft, dar­über nach­zu­den­ken, wie die Armut ein Her­zens­an­lie­gen des Evan­ge­li­ums ist und dass es kei­ne Gerech­tig­keit noch sozia­len Frie­den geben kann, solan­ge Laza­rus vor der Tür unse­res Hau­ses liegt (vgl. Lk 16,19–21). Die­ser Tag wird auch eine ech­te Form der Neue­van­ge­li­sie­rung dar­stel­len (vgl. Mt 11,5), durch die das Ant­litz der Kir­che in ihrer stän­di­gen pas­to­ra­len Umkehr erneu­ert wird, um Zeu­gin der Barm­her­zig­keit zu sein.“

Hat­te Bene­dikt XVI. den Auf­trag der Neue­van­ge­li­sie­rung mit einer ver­stärk­ten Glau­bens­un­ter­wei­sung, einer Erneue­rung der Beicht­pra­xis sowie der eucha­ris­ti­schen Anbe­tung ver­knüpft, so füg­te Fran­zis­kus das popu­lä­re Phä­no­men der Wall­fahrt und des Pil­gerns sowie die Sor­ge um die Armen als Grund­pfei­ler einer Erneue­rung von Kir­che und Glau­ben hin­zu. All das geprägt vom Leit­mo­tiv der Barmherzigkeit. 

Fran­zis­kus setzt auf eine neue Dyna­mik. Statt sich als Kir­che kurz auf­zu­ma­chen und gute Wer­ke zu ver­rich­ten, um danach wei­ter­zu­ma­chen wie bis­her, holt „der Papst vom Ende der Welt“ die Men­schen vom Rand in „das Herz der Kir­che“ hin­ein. Sie sind nicht Objek­te kirch­li­chen Han­delns, son­dern Sub­jek­te und ver­än­dern die Kir­che durch die­se neue Schwer­punkt­set­zung. Ich erin­ne­re mich an den Satz einer Fran­zis­ka­ne­rin, die uns Kapu­zi­nern einen Impuls zu unse­rem Armuts­ge­lüb­de gab. „Seht zu, dass jeder von euch mit einer Fami­lie oder einer Per­son befreun­det ist, die finan­zi­ell am Mini­mum lebt.“ Befreun­det! Das ist mehr als ein pro­fes­sio­nel­les Ver­hält­nis des Hel­fens oder groß­zü­gi­ges Spen­den. Das ist das Hin­ein­tau­chen in die Lebens­welt des oder der anderen. 

Neben dem „Hin­ein­ho­len“ gibt es noch einen wei­te­ren Ansatz, näm­lich den des Stand­ort­wech­sels. Wer die Armen zum Freund, zur Freun­din hat, begibt sich selbst aus der Mit­te der Gesell­schaft an den Rand, erwei­tert die eige­ne Per­spek­ti­ve. Dazu muss man sich nur einen Kreis vor­stel­len. Das Gesichts­feld eines Erwach­se­nen beträgt ca. 214°. Ste­he ich im Zen­trum, dann sehe ich einen bestimm­ten Bereich. Bege­be ich mich dage­gen an den Rand des Krei­ses, dann ist die Flä­che, die ich wahr­neh­men kann, viel grö­ßer. Ich sehe mehr, sehe neue Zusam­men­hän­ge, sehe manch­mal sogar tie­fer. Die Opti­on für die Armen heißt nicht, nur die Armen zu sehen, son­dern die Welt aus der Sicht der Armen wahrzunehmen. 

Hier kann sich mei­ner Mei­nung nach die The­ma­tik des Welt­ta­ges der Armen noch wei­ter­ent­wi­ckeln. Wir sehen die­sen Tag aus der west­li­chen Sicht, wo die Armen nicht wirk­lich Teil der Gesell­schaft sind, son­dern vor den Kir­chen und Kon­sum­tem­peln um Almo­sen bit­ten. Dage­gen bestehen im Süden der Welt die Gemein­den zu einem gro­ßen Teil aus Armen, die die gro­ße Mehr­heit der Bevöl­ke­rung sind: Klein­bau­ern, Tage­löh­ner oder Arbeits­mi­gran­ten, die ver­su­chen, ihre Fami­li­en zu ernäh­ren und ihren Kin­dern eine bes­se­re Zukunft zu schenken.

In mei­nen acht Jah­ren in einem Indio­dorf in Süd­me­xi­ko habe ich viel von der Groß­zü­gig­keit die­ser Men­schen erlebt. „Wo zehn Per­so­nen von Tor­til­las und Boh­nen satt wer­den, da kön­nen wir auch noch ein Wai­sen­kind auf­neh­men.“ Die Soli­da­ri­tät unter finan­zi­ell Armen ist oft hoch. In Rom hat­te ich mit Maria aus Lett­land Bekannt­schaft geschlos­sen, die in der Metro­sta­ti­on Bar­be­ri­ni um Almo­sen bat. Wenn ich vor­bei­kam, unter­hiel­ten wir uns und ein­mal im Monat gab ich ihr einen grö­ße­ren Betrag. Als ich eines Tages von einer schwie­ri­gen Zahn­be­hand­lung erzähl­te, bot Sie mir – wie selbst­ver­ständ­lich – Hil­fe an.

Viel­leicht soll­ten wir am Welt­tag der Armen nicht nur Bedürf­tig­keit wahr­neh­men, son­dern auch ver­mehrt die Wür­de der Men­schen am Rand. Es gilt den Ein­satz für sie zu ver­stär­ken und gleich­zei­tig von ihnen zu ler­nen: z. B. Dank­bar­keit, Genüg­sam­keit und Soli­da­ri­tät. Dann ist der Welt­tag mehr als ein The­men­tag. Dann ver­än­dert er unser Kir­chen­bild und wir bemer­ken, dass vie­le der Armen getauft sind und damit Teil der Kirche.

 

Zur Per­son: Br. Hel­mut Rakow­ski ist Jahr­gang 1962 und seit 1981 Kapu­zi­ner. Vie­le Jah­re leb­te der Pries­ter als Seel­sor­ger beim Volk der Mix­te­ken in den Ber­gen Süd­me­xi­kos. Zehn Jah­re war der Ordens­mann von Rom aus ver­ant­wort­lich für die mis­sio­na­ri­schen Akti­vi­tä­ten der Kapu­zi­ner welt­weit. Von 2013 bis 2017 arbei­te­te Br. Hel­mut im Päpst­li­chen Rat zur För­de­rung der Neue­van­ge­li­sie­rung, 2018 bis 2022 war er Geist­li­cher Direk­tor der Katho­li­schen Jour­na­lis­ten­schu­le ifp in Mün­chen. Im Juni 2022 wähl­ten ihn sei­ne Mit­brü­der zum  Pro­vin­zi­al der Deut­schen Kapu­zi­ner­pro­vinz, die aus Klös­tern in in Deutsch­land, West-Öster­reich, Bel­gi­en und den Nie­der­lan­den besteht. 

Die­ser Bei­trag ist zuerst in CKD-Direkt erschienen.

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